Als ich von der Intensivstation verlegt wurde, brach große Aufregung aus im KH Mödling. Das Bett in dem ich für 2 Monate zu liegen hatte war zu groß für die Türstöcke der Kinderstation. Der Aufbau für den Flaschenzug ragte zwei Zentimeter über das Normmaß der Türen hinaus. Da es technisch nicht möglich war, dies zu verändern, brachte man mich auf die Unfall B Station, für Erwachsene. Da lag ich dann mit meinen neun Jahren, in einem Dreibett-Zimmer mit zwei Damen die locker meine Oma und meine Uroma sein konnten. Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass es meinen Zimmerkolleginnen fürchterlich auf den Nerv ging, wenn ich weinte, oder nach meiner Mama fragte. So verkniff ich es mir, das machte das Raumklima erträglicher. Mein großes Glück war, dass die Betten immer wechselten. Ich bekam alle paar Tage links und rechts von mir neue Damen, die nie länger als maximal zwei Wochen blieben. So hatte ich viel Gelegenheit um an mir selbst zu arbeiten und erfreute mich daran, zu merken, dass mein nun verändertes Verhalten, auf positive Reaktion stieß. Jeder war überrascht, wie tapfer ich war, dass ich nie weinte, nicht nach meinen Eltern fragte, jede Untersuchung über mich ergehen ließ. Nur die Dame aus dem Labor machte mir Angst, die war schon sehr alt, und ging auch sehr gekrümmt, ihre Brille war so dick wie der Glasboden eines Aschenbechers. Ich habe mich immer gefragt, wie sie wohl mit der Nadel in die Vene findet. Wobei mal ganz am Rande erwähnt, Blutabnehmen ist ja alles gut und schön, aber der Piekser in die Fingerkuppe, um nur einen einzigen Bluttropfen auf so einen Glasstreifen zu bekommen, das verursacht mir heute noch Gänsehaut und tut zehn Mal mehr weh.
Auch fand ich es toll, dass die Ärzte und Schwestern enorm stolz auf mich waren, was für eine pflegeleichte Patientin, so jung und schon so tapfer. Auf der Kinderstation würde es da ganz anders zugehen. Ja, da wäre ich auch manchmal gerne gewesen, aber was sollst, was nicht zu ändern ist, muss man so annehmen wie es ist.
Aber es gab auch positive Erlebnisse auf dieser Station. Es war Ende November 1985, als mich eine Krankenschwester fragte, ob ich gerne „berühmten“ Besuch hätte, als kleine Abwechslung sozusagen. Zwei Zimmer weiter lag der damalige Torwart der Austria, Franz Bernhard Wohlfahrt. Ich war nicht sonderlich aufgeregt ob des Besuchs, da ich als Mädel mit Fußball nicht viel am Hut hatte und mir sein Name auch nicht bekannt war. Aber es war total nett, er hat sich an mein Bett gesetzt, seinen Kaffee bei mir getrunken und mir von sich und seiner Fußballkarriere erzählt. Als ich dass dann meiner Großmutter erzählte, ist sie vor Aufregung fast von der Bettkante gefallen. Sie ist fanatischer Sportfan, sieht jedes Skirennen und Fußballmatch im Fernsehen und kennt die aktuellen Spitzensportler alle beim Namen. Mein Bruder war nicht so begeistert, als eingefleischter Rapid-Fan, aber ein bisserl neidig war er glaube ich schon. Franz kam bis zu seiner Entlassung jeden Nachmittag zu mir, meistens für eine halbe Stunde, einfach nur so zum Plaudern. Als er dann nach Hause gehen durfte hat er mir ein Torwartleiberl mit Widmung und Unterschrift geschenkt. Das hängt heute noch bei mir im Kasten. Ich habe es nie angehabt und auch niemanden anprobieren lassen. Mein Bruder Martin wollte es ein paar Mal ausborgen, aber auch das habe ich nicht zugelassen, viel zu schade für ein Match im Garten mit den Nachbarskindern. Und schließlich war es ja mein Erinnerungsgeschenk.
Meine Entlassung war für den 23.Dezember geplant. Die Ärzte hofften, dass meine Brüche bis dorthin soweit verheilt waren um in Gips gepackt zu werden. Das Schwierige an der Situation war wohl, dass die Hüftkugel ganz zertrümmert war, der Oberschenkelhals zwei Mal gebrochen. Mit dem Flaschenzug wollte man erreichen, dass nicht gleich alles in sich zusammenfällt. Ich hatte wahnsinnige Angst davor wie es denn wohl sein wird, wenn man die Gewichter abnimmt, nach zwei Monaten am Zug plötzlich wieder ohne, das war schwer vorstellbar. Aber es verlief recht unspektakulär, da das Bein immer auf einer Schiene gelegen hatte, war die Abnahme kaum spürbar. Auch die Entfernung des Nagels unterhalb meines Knies ging viel einfacher als in meiner Phantasie vorgestellt. Völlig unblutig und schmerzfrei. Wobei der Durchmesser doch 5mm betrug, das ist ja gar nicht so wenig. Ich habe mir übrigens nie erzählen lassen, wie man ihn reingemacht hat. Schon alleine die Vorstellung, ob man das wohl mit einem Hammer machen müsste oder mit einer Bohrmaschine vorbohrt. Naja, die Ärzte hat es immer sehr amüsiert das ich mir die Ohren zugehalten habe, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Aber mal ganz im Ernst, Chirurgen sind schon ein sehr eigner Menschenschlag. Ist euch schon mal aufgefallen welche Hierarchie in einem Krankenhaus herrscht? Ganz einfach zu beobachten ist das Prozedere bei der Visite. Ein normaler Stationsarzt kommt mit der Oberschwester und vielleicht ein bis zwei weiteren Schwestern im Gefolge. Der Oberarzt zieht schon deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich und da wird es auch schon ein wenig eng im Zimmer, wenn alle zuhören möchten. Aber wenn der Primar kommt, dann platzt das Zimmer aus den Nähten, weil dann meist auch der Oberarzt mitkommt, der Stationsarzt und alle Schwestern, und wahrscheinlich auch ein paar Ärzte in Ausbildung. Abgesehen davon, dass die Schwestern kurz vor so einer großen Visite durch die Zimmer rennen, die Betten noch mal glatt ziehen, die Nachtkästchen von Essen und Trinken befreien und einen ganz höflich bitten, ein wenig Ordnung zu machen.
Dann gibt es da noch den guten Geist einer jeden Station, die Damen die für die Sauberkeit zuständig sind. Die haben immer Zeit für ein paar nette Worte zwischendurch und versuchen auch meist ein wenig Heiterkeit zu verbreiten.
Als Zeitvertreib habe ich sehr viel gehäkelt, ganz viele Topflappen, in bunten Farben und verschiedenen Mustern. Die sind dann an alle Schwestern, Ärzte und Reinigungsdamen verschenkt worden. Ansonsten ist so ein Krankenhausalltag ja recht gut durchstrukturiert, Frühstück im Bett, Katzenwäsche im Bett, dann kamen die Schwestern zum Bettenmachen, und man soll nicht glauben wie schwierig es ist ein Leintuch gewechselt zu bekommen, wenn man nicht aus dem Bett kann. Das Dreieck oben am Bett wurde mein größter Helfer, und meine Oberarmmuskulatur hatte genug Training. Aber wie bei so allen Dingen im Leben, die Not macht erfinderisch und mit der Zeit weiß man dann, wie solche Situationen schnell, einfach und wenn möglich schmerzfrei zu absolvieren sind. Nach so einer Aktion war ich immer heilfroh über ein wenig Verschnaufpause, die war einem gegönnt, bis die Visite kam, und wie schon erwähnt hatte die eben immer verschiedene Ausmaße. Auch die Dauer war immer unterschiedlich, je nachdem wie spannend die jeweiligen Krankenakten waren. So traurig das auch war, bei mir dauerte es immer ein wenig länger. Für die Ärzte war ich so was wie ein Phänomen, eine Patientin im Kindsalter mit Frakturen die bislang nur bei über 80 Jährigen festgestellt wurden. Einmal pro Woche wurde ich zum Röntgen gefahren, um den aktuellen Stand der „Heilung“ zu verfolgen.
Kurz darauf kam dann auch schon das Mittagessen, und um vierzehn Uhr begann die Besuchszeit. Meine Familie hat sich immer abgewechselt. Dienstag und Donnerstag kam die Swoboda Oma, die Mutter meines Vaters. Sie war eine streng strukturierte Person. Hat immer um dieselbe Zeit den Zug genommen, und auch den gleichen Bus, auf dem Hin- und Rückweg. Was sich manchmal als recht mühsam herausstellte, auch wenn es total nett gemeint war. Die Besucher glauben immer, Abwechslung in den Alltag bringen zu müssen und schenken einem Zeit. Aber nicht jeder Tag ist gleich, und man fühlt sich nicht immer in der Lage, zwei Stunden lang zu plaudern, manchmal will man einfach nur schlafen um dem Schmerz zu entfliehen. Oder man mag auch nicht immer reden, weil der Krankenhausalltag auch nicht viel Neues in sich birgt, und manchmal ist es eben auch einfach leichter keinen Besuch zu haben, um nicht der Versuchung zu erliegen, vielleicht doch zu jammern. Das war genau das, was ich mir vorgenommen hatte nicht mehr zu tun. Es wird nicht gejammert, und Selbstmitleid war gestrichen, ich habe es auch all meinen Besuchern verwehrt mich in irgendeiner Form zu bedauern. Weil es das nicht besser macht, ganz im Gegenteil, Mitleid von außen macht die eigene Situation fast unerträglich. Meine Mama ist immer an den Tagen dazwischen gekommen, sprich Montag, Mittwoch und Freitag. Manchmal hat sie meinen großen Bruder mitgebracht und ab und an eine Freundin von mir. Die Schulaufgaben hat die Lehrerin immer mitgeschickt, und die habe ich dann immer gleich gemacht. Das hat auch gut funktioniert, für mich war es eine nette Abwechslung und man hatte das Gefühl doch noch ein wenig dazu zu gehören. Frau Eder habe ich zu verdanken, dass ich die 4.Klasse Volksschule trotz enormer Fehlzeiten nicht wiederholen musste. Die Schularbeiten und Tests durfte ich immer nachmachen, wenn ich mal aus dem Krankenhaus raus war. Obwohl das doch recht schwierig war, denn die Bedingung der Ärzte, mich aus dem Krankenhaus zu entlassen und vom Bett zu befreien war ein Beckenbeingips. Von den Zehen bis unter die Brust. Auf einem Sessel zu sitzen bedeutet auf einer Backe zu balancieren, mit weg gestrecktem Gipsbein. Aber so ein Vormittag ist auch auszuhalten, und mit der Zeit lernt man auch mit diesem Handicap umzugehen. Da ich diese Art von Gips über einen Zeitraum von 14 Monaten tragen musste, wird man dann auch schon einfallsreich. Sobald der Liegegips in einen Gehgips verwandelt wurde, hat mich auch nichts mehr gehalten. Meine liebste Abwechslung war es mit meinen Freundinnen auf der Strasse Gummihüpfen zu spielen, wobei mein großer Vorteil war, beide Krücken zur Stütze zu haben, und mit der nötigen Technik hatte ich dabei viel Spaß. Meiner Mutter blieb dabei fast das Herz stehen, aber Kinder wollen nun mal spielen, und ich habe immer argumentiert, solange es nicht weh tut, kann es auch nicht schaden.