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Blog 06 Frankenstein läßt grüßen

Der Tag der Operation war voller Aufregung für mich. Trotz der vielen Operationen zuvor, war alles neu, der Weg zum OP, man wurde unterirdisch von einer Seite des Gebäudes in die andere gebracht. Der Gang war ganz schön lang, die Wände von Kindern bunt bemalt, aber das nahm ich nur am Rande wahr. Der Pfleger der mich mit meinem Bett in den OP brachte, war mir fremd, es war somit niemand da, der mich ablenkte und mir die Nervosität nahm. Alle haben sich sehr bemüht und waren wirklich nett, jedoch anders als das was ich gekannt hatte. Eines jedoch war gleich, der Schmäh des Narkosearztes. Kurz nachdem er das Mittel durch den Venflon spritzt, fragt er, „was hast du für Hobbies, was tut sich in der Schule,…“ bevor man noch einen Satz zu Ende sprechen kann, ist man weg. Licht aus, traumloser Schlaf und wenn man munter wird, tut der Hals weh und der Mund ist ganz ausgetrocknet. Ich habe mich lange Zeit gefragt, warum einem der Hals nach einer OP weh tut, wo man doch am Bein operiert wird. Der Intubationsschlauch ist schuld daran, der steckt während der Operation in der Luftröhre und soll so die Beatmung erleichtern. Naja, sicher ist sicher.

Geweckt wurde ich im Aufwachraum, aber da bin ich immer so tief weg, dass ich kaum wahrnehmen kann, was rundum passiert. Die Schwester hat mir gezeigt, dass meine Eltern auf der anderen Seite der Glasscheibe stehen, ganz in grün gewandet und auf mich warten. Ich konnte nicht mal die Hand heben, war alles viel zu mühsam und anstrengend, und schon war ich wieder weg. Zu mir kam ich erst wieder auf meinem Zimmer. Wie immer war diese enorme Übelkeit in mir und unsägliche Schmerzen. Mein einziger Gedanke war, was haben die nur mit mir gemacht? Das Bein tat höllisch weh und ich konnte es keinen Millimeter bewegen. Die Bettdecke war wie ein Zelt über mich gebreitet, man hatte so eine Art kleinen Tisch über meine Beine gestellt, sodass die Decke darüber lag, ohne mich zu berühren. Meine Zimmerkollegen drückten den Schwesternknopf, als ich mich zum ersten Mal übergeben musste. Das funktioniert wirklich immer gut, egal wer seinen großen Tag hat, alle anderen kümmern und sorgen sich und holen sofort Hilfe. Als der Pfleger kam fragte er, ob ich schon nachgesehen hatte, welches Kunstwerk die Ärzte vollbracht hätten. Natürlich nicht, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich da nie unter die Decke geschaut, ich wollte gar nicht wissen, was mir solche Schmerzen verursacht, denn eines war mir klar, es ist keine Kleinigkeit. Aber das dies nicht durchzuhalten war, war auch klar. Die Visite kam am Nachmittag, nur wenige Stunden nach der OP. Alle betont fröhlich und neugierig, wie es mir wohl geht. Kurzerhand wurde mir die Decke weggenommen und dann gab es kein wegschauen mehr. Ich war total entsetzt, Tränen schnürten mir den Hals ab, aber das wollte ich schon gar nicht zulassen. Immer tapfer sein, Zähne zusammenbeißen und durch. So starrte ich das Ding an meinem Unterschenkel an, und ja, es war exakt das gleiche Gerät wie das meiner Bettnachbarin. Acht Drähte, vier Ringe, vier Gewindestangen. Alles war tieforange vom Desinfektionsmittel, Tage später wich das Orange, welches sich nur schwer abwaschen lies, blauschwarzen Flecken, kein Wunder, dass einem da alles weh tat. Aber dem war noch nicht genug, der Chefarzt wollte dass ich aufstand und zwar sofort. Eine unmögliche Vorstellung, in meinem Kopf hatte ich Bilder, wie mir das Bein durch das schwere Eisengerüst abgerissen wird, keine gute Motivation. Ich war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mal so richtig zickig. Bockte, nein, ich steh sicher nicht auf, beschimpfte den Chefarzt als Sadisten und wehrte mich mit Händen und einem gesunden Bein. Aber so schnell konnte ich gar nicht schauen, er griff beherzt in einen der Ringe und drehte mit einem Schwung das Bein so, dass es auf der Bettkante lag. Als der erste Schrecken mal verdaut war, redete er auf mich ein, wie auf ein krankes Tier. Ich soll mich bei ihm am Hals anhalten, er trägt mich, hält mich und lässt mich auch sicher nicht los, ich soll nur auf meinem gesunden Bein stehen, das sei wichtig, das Blut muss ins Bein laufen, sodass die Ärzte sehen, dass sie keine wichtigen Blutgefäße durchbohrt haben. Und genau so haben wir das dann auch gemacht. Ich habe mich an den Chefarzt geklammert und ein anderer Arzt hat den Apparat langsam aus dem Bett gleiten lassen, so das es nicht ruckartig passiert, und ich nicht spontan unter dem Zuggewicht leide. Es war ein total arges Gefühl, das Bein pocht und schmerzt und man glaubt, jeden Moment platzt es. Jeder kennt das Gefühl wenn man sich eine tiefere Schnittwunde am Finger zugefügt hat, wie es dann noch tagelang spürbar pulsiert, so war das Gefühl auch im Bein, aber an mehreren Stellen gleichzeitig und viel intensiver. Ganz ehrlich, an diesem Tag habe ich alles gehasst, den Herrn Illizarof für seine Erfindung, die Ärzte für ihre sadistische Ader, meine Eltern dafür, dass sie das zugelassen haben. Aber es war so wie immer, man gewöhnt sich schneller an die neuen Umstände als man sich das jemals hätte vorstellen können und irgendwann weiß man auch, dass alles Bestreben immer nur im eigenen Interesse gut gemeint war. Heute bin ich dankbar dafür, dieses Gerät hat mir 5,5 cm Beinlänge geschenkt und den Unterschenkel fast ganz gerade gebogen. Rein technisch gesehen ist es eine sehr spannende Sache, der Apparat fixiert das Bein, Wadenbein und Schienbein werden an zwei unterschiedlichen Stellen durchtrennt, eine Sollbruchstelle sozusagen. An den Gewindestangen werden die Ringe immer weiter auseinander getrieben, vier Mal am Tag eine viertel Umdrehung, ergibt eine volle Umdrehung pro Tag und somit einen Millimeter. So verlängert man sich selbst täglich um einen Millimeter und je nach Endziel dauert das seine Zeit. Bei mir kam noch dazu, dass die Achsen verstellt werden musste, so musste das Schienbein mehr verlängert wurde als das Wadenbein, so hat sich ein gewisser Rhythmus und Muster ergeben, an einem Tag alle vier, am anderen nur die oberen Stangen. Zu Beginn ist das ja alles auch gut machbar, ein Millimeter pro Tag ist zu verkraften, aber es kommt der Punkt, wo Muskeln, Sehnen und vor allem die Haut sich nicht mehr in dem Tempo ausdehnen können. Die Haut und das Fleisch rund um die Drähte reißt und ist eine ständige offenen Wunde, die Sehnen sind so derartig überdehnt, dass der Fuß zu einem richtigen Spitzfuß wird, wie bei einer Ballerina, wenn sie auf den Zehen steht. Mein Vater war hier sehr einfallsreich, er hat aus einem Metall einen stabilen breitflächigen Eisenhaken gebogen, ein Ende wurde an der Hinterseite auf den untersten Ring gehangen und am anderen Ende war eine Holzplatte montiert, diese hatte links und rechts oben eine Bohrung, darin waren Schnürsenkel verankert. So konnte man das Brett zu sich ziehen und somit den Fuß in die richtige Richtung. Man muss sich das wie bei Dehnungsübungen beim Sport vorstellen, nur dass dies Tag und Nacht ununterbrochen fixiert wird. Wenn die Sehnen sich an die Position gewöhnt hatten, hat man einfach ein bisschen fester angezogen und neu fixiert. Man darf nicht vergessen, dass die Muskeln unterhalb vom Knie keinerlei Funktion hatten, solange der Apparat die Stütze machte. Ein Hochziehen des Vorderfußes war auf Grund der enormen Überdehnung durch die Verlängerung des Beines aus eigener Kraft nicht möglich. Die Idee meines Vaters hat den Ärzten zu Beginn gar nicht und später extrem gut gefallen, war es doch eine deutliche Unterstützung in ihrem Sinne. Ich habe gehört, das dies heute bereits zum Standard gehört – mein Vater hätte sich diese Erfindung pattentieren lassen sollen.

Meine Mutter hat mir Überzüge genäht, Schläuche mit Gummizug an beiden Enden, sodass ich immer eine Hülle über dem Gerüst hatte. Einerseits aus hygienischen Gründen, wobei ich sowieso jeden Tag mehrmals die Wunden mit Wasserstoff und Wattestäbchen reinigen musste, anderseits aus optischen Gründen. Tat ich das nicht, war eine saftige Entzündung die Folge. In der zweiten Hälfte der Tragezeit habe ich ein Wochenende lang nicht gereinigt, nicht weil ich nicht wollte, ich hatte es einfach vergessen, die Wunden waren nicht mehr offen, da nicht mehr weiter gedreht wurde und so wurde ich dann auch ein wenig nachlässig. Das hatte zur Folge, dass ich in der Nacht extreme Schmerzen bekam und nicht wusste wie ich liegen sollte, um es aushalten zu können. Mein Bruder hat mir dann aus Pölstern ein Nest gebaut, sodass der Apparat ganz weich gebettet lag, und weder Druck noch Zug aufgebaut wurde. Meine Eltern sind dann am nächsten Tag mit mir in die Ambulanz gefahren. Der diensthabende Oberarzt war da ganz cool, sagte nur ich sollte mal ganz fest die Zähne zusammenbeißen, legte einen Finger links und einen rechts um einen der Drähte und drückte ganz fest nach unten Richtung Knochen. Der Eiter floss sofort heraus und der Druck war gleich deutlich geringer. Es tat zwar höllisch weh, aber in diesem Fall war ich selber schuld daran. Von da an, habe ich nie wieder darauf vergessen zu reinigen, auch wenn es rein optisch nicht notwendig aussah. Bakterien sieht man eben nicht, aber die Folgen spürt man dafür umso deutlicher.

Spannend war jedenfalls die Mode die ich tragen musste. Tragbar waren ausschließlich Marlene Dietrich Hosen, mit Gummibund aus dehnbarem Material, unten schön weit, damit alles gut Platz hat. Der Tunnel schützte wohl auch das Gewand vor unnötigen Löchern, die Drahtenden waren zwar umgebogen, aber so spitz, dass man damit alles aufschlitze, was nur kurz daran hängen blieb. Einmal habe ich mit den Krücken ein Wettrennen gemacht und bin im Übereifer mit dem linken Bein an mein rechtes gekommen und habe mir in Kniehöhe eine tiefe Fleischwunde gerissen. Mein Vater hat dann versucht dieses Drahtende weiter nach innen zu biegen, aber der Stahl war so hart, dass dies mit einer Zange nicht ging. In seinem Eifer hat er es mit einem kleinen Hammer versucht, jedoch nur einmal, denn das fand ich ganz und gar nicht cool, das Metall hat durch und durch vibriert und enorme Schmerzen verursacht. Wir habe dann einfach mehrere Lagen Leukoplast darüber geklebt, und das hat auch gut funktioniert. Überhaupt war ich in dieser Zeit nicht zu bremsen, ich ging mit dem Teil Radfahren, Martin hat mir mit einer Holzplatte das Pedal verbreitert, sodass ich den Fuß so aufstellen konnte, ohne mit den Ringen am Rad anzukommen. Auch das Freibad war vor mir nicht sicher, ich hatte einfach meine Wasserstofflösung und Wattestäbchen mit dabei und habe nach jedem Wassergang die Einstichöffnungen gründlich gereinigt. Für die anderen Badegäste war es wohl noch spektakulärer, denn so etwas hatten sie garantiert zuvor noch nie gesehen. Sobald ich mich dem Sportbecken näherte wurde es immer leerer, diese Reaktion löste eine Mischung an Gefühlen aus. Zorn ob der Feigheit und dem offensichtlichen Ekel und Stolz, weil ich mich von solchen Äußerlichkeiten nicht abhalten lies, ein Leben zu führen, dass nicht nur aus krank sein bestand. Ich wollte auch einfach nur das machen, was andere Kids in meinem Alter taten. Bei Sonnenschein im Bad mit Freunden entspannen und Spaß haben.

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