Nach neun Monaten war es dann soweit, der Ilizarov-Appart sollte endlich entfernt werden. Monatelang habe ich darauf gewartet, und mich auch gleichzeitig gefürchtet, wie wird das wohl werden, wie wird das Teil abmontiert. Mir wurde immer wieder gesagt, ohne Narkose, das ist wie Gips entfernen. Aber mal ganz ehrlich, Gips liegt außen auf der Haut und geht nicht durch Haut, Fleisch und Knochen. Ich wurde tatsächlich ins Gipszimmer bestellt, meine Großmutter war an diesem Tag bei mir, aber ich habe sie gebeten draußen zu warten.
Ein mir bis dato unbekannter Assistenzarzt wurde damit beauftragt, das Gestell abzumontieren und die Drähte zu entfernen. Zu Beginn war er recht zuversichtlich und witzig, zeigte mir seine Werkzeugkiste und er erklärte mir, was er Schritt für Schritt machen wollte. Das Abzwicken des ersten Drahtes war schon mal ein recht unangenehmes Gefühl, mit dem Durchtrennen des Draht auf einer Seite wird dieser in Schwingung versetzt und das war bis in den Knochen zu spüren. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, ich zählte schon mal durch, wie oft geschnitten werden muss. Das Entfernen des ersten Drahtes war hingegen eine große Überraschung, denn es war nur unangenehm, tat aber nicht weh. Die scharfe Schnittkante hat den Wundkanal ein wenig angeritzt, aber es war keine besonders blutige Angelegenheit. Direkt oberhalb vom Knöchel war es schon ein wenig spürbarer, wie sich der Draht seinen Weg raus bahnt, wahrscheinlich auch, weil er an den gänzlich überdehnten Sehnen vorbei musste. Dann wurde mit Gabelschlüssel aus dem Werkzeugkasten die untersten Ringe von den Gewindestangen entfernt. Im oberen Bereich, unterhalb vom Knie wollte er die Drähte durchtrennen und dann die Ringe ausfädeln, sodass zum Schluss nur noch zwei Drähte zum Ziehen sind. Bis zum Ziehen ging sein Plan auch auf, wobei jegliche Berührung am Wadel extrem empfindlich war. Der gesamte Unterschenkel ist über einen Zeitraum von neun Monaten nur mit Wattestäbchen zur Reinigung in Berührung gekommen, da lag kein Stück Stoff auf, keinerlei Druck in irgendeiner Form. Der vorletzte Draht ging vorerst nicht raus, gar nicht. Er hat mit der Kombizange gezogen und das Teil hat sich keinen Millimeter gerührt. Daraufhin hat er fester gezogen und noch fester, frei nach dem Motto, das gibt’s ja nicht, der muss raus. Ich hab schon gejammert, er soll aufhören, das tut weh, er soll den Scheiß dort lassen wo es ist. Nein, ich soll die Zähne zusammenbeißen, er versucht es nochmal, das Teil muss raus. Ist es dann auch, mit der angeschweißten Halteöse durch Knochen und Fleisch. Diese Öse dient dazu, dass die Drähte bei der Montage nicht willkürlich rutschen und gleich Stabilität hergestellt werden kann. Sicher eine gute Sache, wenn es dann auf der richtigen Seite des Knochens entfernt werden würde, dann gäbe es zwar sicher auch ein Blutbad, da Fleisch und Haut auf jeden Fall beleidigt werden, aber der Knochen müsste nicht nachgeben.
Da saß ich nun, schrie wie am Spieß und knapp vor der Ohnmacht. Panik und Wut machten sich breit, und ich wäre ihm liebend gerne an die Gurgel gesprungen. Zwei Schwestern kamen hereingestürmt, wohl angelockt von meinem animalischen Gebrüll. Dann stand die Frage im Raum, hast du die Öse nicht auf dem Röntgen gesehen? Hätte er, wenn er die Bilder angesehen hätte – das fällt dann unter Anfängerfehler, wird ihm sicher nicht noch mal passieren – und mir auch nicht. Die neu entstandene Wunde wurde gesäubert und sichergestellt, dass keine Knochensplitter frei liegen, und dann ging es an den letzten. Der Arzt mit zitternder Hand, die Schwester mit beruhigenden Worten und ich vor Wut, Angst und Zorn schnaubend – wenn du mir noch mal weh tust kratz ich dir die Augen aus. Es tat nicht mehr weh, ohne Öse, auch wirklich kein Problem. Dann wollten Sie mich mit dem Rollstuhl ins Zimmer bringen, nein danke, ich laufe. Die Vorschrift besagt, sie müssten mich fahren – scheiß auf die Vorschriften, Röntgenbilder ansehen steht sicher auch in den Vorschriften, ich laufe. Selbstverständlich mit Krücken und ohne Belastung, aber ich wollte unbedingt wissen wie es sich anfühlt wenn drei Kilo Eisen Geschichte sind.
Meine Großmutter saß kreidebleich auf den Sesseln vor dem Gipszimmer und konnte zuerst nicht aufstehen, sie war wie gelähmt, sagte mein Wehklagen sei ihr durch die Knochen gegangen, ich sagte, mir auch, im wahrsten Sinne des Wortes.