Ab und an war ich es leid, immerfort an mein Handicap erinnert zu werden. Alles nach meiner Gesundheit auszurichten, Ferien waren immer mit Operationen verplant, immer die gleichen Abläufe, Operation – Rollstuhl – zwei Krücken ohne Belastung – zwei Krücken mit Teilbelastung – zwei Krücken mit Vollbelastung – eine Krücke – gehen lernen – Physiotherapie – Krafttraining – nächste Operation – Rollstuhl…
Gehen lernen ohne Krücken war jedes Mal die größte Herausforderung. Durch die Operationen, den Gipshosen und monatelanges Krückengehen war die Muskulatur so zurückgebildet, dass jede Bewegung Schweißausbrüche verursachte. Das Vertrauen zu finden, einen Schritt nach dem anderen zu setzten, und zu hoffen, dass man sich selbst tragen kann. Dass das Bein nicht wegknickt, oder der Schmerz durchfährt, sodass man nicht im Stande ist die rettende Tischkante, Bett, Sessel oder sonst einen Gegenstand zum Anhalten zu erreichen.
Wenn eine Operation für die großen Ferien vorgesehen war, haben meine Eltern immer versucht einen Urlaub in Griechenland zu ermöglichen. Die Genesung ging dort immer besonders schnell. Mit zwei Krücken in den Urlaub und mit nur einer wieder nach Hause. Das Meerwasser, Schwimmen und Laufen im Sand war ein optimales Training und vor allem hatte ich dabei kaum Schmerzen. Diese Urlaube habe ich in sehr guter Erinnerung, irgendwie hatten die auch etwas von Belohnung für die Schmerzen, die schlecht Luft im Krankenhaus, den Entbehrungen, an sich.
In Speißing war ich eine von vielen, nicht mehr der außergewöhnliche Fall. So eigenartig das klingen mag, aber das tat auch gut. Es tat gut zu sehen, dass es weit schlimmere Fälle gab, und ich bekam Krankengeschichten zu sehen, die mir Gänsehaut laufen ließen und Dankbarkeit für mein Schicksal. Ein vierjähriger Junge aus dem Kriegsgebiet Irak / Iran, die beide Beine durch eine Granate verloren. Er war monatelang auf der Station, ohne Eltern, ohne Angehörige, musste unsere Sprache lernen, und er lief auf seinen Armen den Gang rauf und runter, und lachte dabei. Das ist bewundernswert, so viel zu ertragen und sein Lachen nicht zu verlieren. Später hat er Prothesen bekommen, und hat auch damit rasch laufen gelernt. Für mich war er ein Beispiel dafür, dass man alles schaffen kann, sofern man es will.
Frei nach dem Motto, wir können alles schaffen, wir müssen nur wollen.
Wenn man das erstmals verstanden und verinnerlicht hat, lässt sich vieles leichter ertragen. Es gibt immer einen Weg, und Ende ist erst wenn man selber aufgibt. Man darf sich nicht entmutigen lassen, nicht von ungläubigen gesunden Menschen, nicht von ratlosen Ärzten.
Mitleid konnte ich nie ertragen, von niemand, das habe ich auch immer strikt untersagt. Mitleid raubt einem die Kraft. In den Genesungsphasen braucht man das aber am allermeisten, seine eigene innere Kraft, um all das scheinbar Unmögliche zuwege zu bringen. Wenn man an einer scheinbaren Endstation angelangt ist, müde, kraftlos, von Schmerzen geschwächt, und es nicht schafft auch nur einen Zeh zu bewegen, ja, da kann man sich nicht vorstellen, wie man denn jemals wieder auf den Beinen stehen soll und einen Fuß vor den anderen setzten. Aber den Glauben daran darf man nie verlieren, eine Zielvision, wie man schmerzfrei ohne Hilfsmittel spazieren geht oder barfuß im Gras. Und eines ist sicher, das Grinsen ist breit wenn man genau das geschafft hat, das hat ein bisschen was von, ich hab es der ganzen Welt gezeigt, ich kann das, juhuu.